Seid wählerisch!
By Giles
Gestern haben, im Schatten der Entscheidung zum Euro-Rettungsschirm, die Regierungsparteien endlich ein neues Wahlrecht verabschiedet. Können wir nun zufrieden sein?
Sicher ist, die skandalöse Situation, dass unser Land ohne ein geltendes Wahlrecht auskommen musste, ist bereinigt. (Man könnte sich freilich einmal Gedanken über die Frage machen, wieso etwas so Wesentliches wie das Wahlrecht als einfaches Gesetz, also mit einfacher Regierungsmehrheit, beschlossen werden kann. Bisher hat man, im Bewusstsein dieses Problems, daher auch immer einen parteiübergreifenden Konsens gesucht, nicht so jedoch in diesem Fall.) Die Verfassungskrise (denn kein Wahlrecht zu haben ist eine Verfassungskrise) ist für’s erste behoben. Zufriedenstellend ist diese Lösung dennoch nicht, was nicht nur der heftige Protest praktisch aller Oppositionsparteien zeigt. Allein, einen einheitlichen, oder auch nur irgendwie kompromiss-fähigen Gegenvorschlag, gibt es in der Opposition auch nicht: Die SPD möchte Ausgleichsmandate und eine Verlagerung der Gewichtung hin zu Listenmandaten (bisher 50:50); Grüne und Linke favorisieren ein Listenausgleichssystem, bei dem Listenmandate wegfallen müssten. Der Vorschlag der SPD könnte im extremen Fall zu einer erheblichen Vergrößerung des Parlaments führen, der grüne Ansatz hätte weitreichende Konsequenzen für all jene Parteien, die nur in wenigen Bundesländern antreten (besonders betroffen wäre hier die CSU), denn weil die Grundlage zur Verrechnung mit den Listen anderer Wahlkreise weitgehend entfiele, bestünde für sie kaum eine Aussicht, Überhangmandate zugesprochen zu bekommen. Hierin mag gar ein weiteres Grundsatzproblem des alten wie des neuen Wahlrechts sichtbar werden: Wie kann und soll sinnvoll mit Parteien und Gruppen umgegangen werden, die nur regional antreten?
Man wird zugeben müssen, dass die Auswirkungen des negativen Stimmgewichts im alten Wahlrecht nicht dramatisch waren, es dem Verfassungsgericht also um grundsätzliche Erwägungen zur Wahlrechtsgleichheit gegangen sein dürfte (sonst hätten sie das beanstandete Wahlergebnis auch nicht bestehen lassen und die Frist zur Neuregelung nicht über einen weiteren Wahltermin hinaus setzen dürfen). Darum gerade ist aber das Gesetz der Regierungskoalition nicht zufriedenstellend, weil es zwar die Wahrscheinlichkeit von negativem Stimmgewicht (erheblich) reduziert, aber eben nicht ausschließt und – anders als nach den Vorschlägen der Opposition – auch keinen Ausgleich schafft. So wird die Weigerung der Koalition eine Lösung zu unterstützen, die Ausgleichsmandate vorsieht, mit einiger Wahrscheinlichkeit der verfassungsrechtliche Stolperstein des neuen Wahlrechts. Die Ursache der Problematik – das Prinzip des Überhangmandats – bleibt unangetastet.
Der Fehler ist freilich systembedingt: Er liegt im Stimmensplitting selbst und die einzige “saubere” Möglichkeit zur Bereinigung wäre wohl die Abschaffung desselben: Ein Wähler, eine Stimme. Dass das mit den beiden großen, SPD und CDU, kaum zu machen sein wird – denn schließlich geht die weit überwiegende Zahl der Direktmandate an eine der beiden – ist so sicher wie bedauerlich.