Sensation, Information und Verantwortung
By Giles
In Großbritannien (und nicht nur dort) erschüttert derzeit der Skandal um das – inzwischen eingestellte – Sensationsblatt News of the World die Presse und die Politik. Die Affäre hat möglicher Weise gar das Potential zum bisher größten Presseskandal aller Zeiten. Den vielen (zurecht) entsetzten Kommentaren soll hier kein weiterer hinzugefügt werden – in wie vielen Worten kann man Abscheu ausdrücken? – stattdessen wollen wir den Skandal zum Anlass nehmen, einmal ein paar grundsätzliche Fragen zu stellen: Sensationslust – Information – Verantwortung — diese Stichpunkte stecken grob den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die folgenden Betrachtungen bewegen sollen.
Da wäre zunächst das Offensichtliche hinter einem Skandal wie diesem: Die Frage nämlich, für wen die Macher von Zeitungen wie der News of the World denn ihre unsauberen Aktivitäten entfalten? Das ist auch die Frage nach der Mitverantwortung des Konsumenten. Laut einer Statistik der Online-Ausgabe des britischen Guardian war die News of the World im April 2011 die auflagenstärkste Sonntagszeitung Großbritanniens – und das nicht etwa hauchdünn, sondern mit einem Abstand von deutlich mehr als einer halben Million Exemplaren zum nächsten Verfolger. Was die Zeitung tat (wenn der Leser auch nicht unbedingt wusste, wie man zu den veröffentlichten Informationen kam) fand also Anklang. Dabei war es keineswegs ein Geheimnis, dass die News of the World unter den ohnehin schon als rücksichtslos verschrieenen britischen Tabloids als das vielleicht rücksichtsloseste Blatt galt. Es spricht sogar einiges dafür, dass es gerade die Rücksichtslosigkeit ist, die den Erfolg solcher Blätter ausmacht. Dabei werden bewusst Ängste, Vorurteile und Befindlichkeiten einer Masse bedient, die sich durch kaum etwas so sehr definiert, wie durch das gemeinsame Gefühl, von der Gesellschaft ungerecht behandelt zu werden, nicht den verdienten Teil vom Kuchen zu bekommen. Diese Tendenz liegt – im Vereinigten Königreich vielleicht noch etwas stärker als andernorts – in der der Geschichte dieser Blätter begründet, die sich im 19. Jahrhundert als bezahlbare Zeitungen für die langsam alphabetisierten working classes etablierten und schon aus diesem Grund die Perspektive der Unterdrückten und „Verlierer“ vertreten sollten. Was Zeitungen wie die News of the World tatsächlich lieferten – und zwar von Beginn an – waren Skandalgeschichten, möglichst schockierende Berichte über Verbrechen oder Prostitution: Inhalte also, die haargenau dem entsprechen, was das gehobene Bürgertum über das Niveau der working classes dachte. Es wäre vielleicht eine interessante kulturhistorische Aufgabe, einmal die Einflüsse dieser Medien sowohl auf den (politischen) Bildungsgrad als auch auf das Selbstverständnis der sogenannten working classes zu untersuchen (wenn das nicht bereits unternommen wurde). Es würde kaum überraschen, wenn man im Ergebnis einer solchen Studie zu dem Schluss käme, diese Massenblätter seien recht eigentlich von Beginn an Instrumente der Meinungssteuerung einer (auch mit ihrer Hilfe) bewusst von politischer Kompetenz ferngehaltenen Unterschicht.
Freilich darf man die menschliche Lust an allem Erschreckenden nicht gänzlich außer Acht lassen (wir haben dieses Thema schon früher gestreift). Selbst der gebildetste Mensch kann sich diesem Kitzel nicht gänzlich entziehen. Vielleicht steckt darin ein Stück weit jener Antrieb, den Elias Canetti in der Begegnung mit dem Tod erkennt: Da ich mich als Verschonter sehe, erlebe ich ein Gefühl von Überlegenheit, von Macht. Dass eine solche Erfahrung am intensivsten zu wirken scheint in jener gesellschaftlichen Gruppe, die am weitesten von realer Macht sich entfernt fühlt, ist, so betrachtet, wenig verwunderlich.
Information ist eine Grundlage jeder kompetenten Meinungsbildung (wobei „Information“ hier zunächst in der alltagssprachlichen Bedeutung verwendet werden soll, also als Übermittlung (neuen) Wissens). Um kompetent Problemlösungs- und Entscheidungsstrategien entwickeln zu können, ist es nötig, dass der Handelnde Zugriff auf so viele der relevanten Daten (als Einheiten einer Information) zu einer gegebenen Situation erhält, wie möglich. Information in dem eben skizzierten Sinne ist demnach die Bereitstellung/Übermittlung von Daten zu einer gegebenen Situation. Dabei sind freilich einige Dinge zu beachten: Nicht jedes Datum einer gegebenen Situation ist immer relevant. Teil der Entscheidungsfindung ist es daher auch, relevante Daten von unwichtigen zu trennen: Wer beispielsweise zu entscheiden hat, ob ein Seil über einer Schlucht sein (des Handelnden) Gewicht tragen könnte, wird die Farbe des Seils kaum als relevantes Datum behandeln – es sei denn es handelte sich um ein Spezialseil (und er erkennt es auch als solches) dessen Belastbarkeit durch einen Farbcode gekennzeichnet ist – in welchem Falle der Farbcode gemeinsam mit vorab vorhandenem Wissen gleichsam eine Abkürzung durch den Entscheidungsprozess darstellen kann. Grundsätzlich ist Vorwissen ein effektiver Filter, der die Einordnung der Bedeutung eines Datums erleichtern oder verändern kann. Vorwissen kann auch als Expertenwissen von außen an den Handelnden (in Form von Information oder von Vorauswahl/Vorfilterung von Daten) angetragen werden. Implizit nutzen wir das alle, wenn wir uns in unserer Rede auf Begriffe beziehen, zu deren Definition Expertenwissen nötig wäre: Wir verlassen uns auf die Experten und verwenden einen Ausdruck im wesentlichen in Übereinstimmung mit deren Bestimmung. Hilary Putnam nennt dieses Prinzip „the division of linguistic labor“.
Es ist nun eine der vornehmsten Aufgaben der Presse, den Bürgern eines demokratischen Landes die Informationen zu vermitteln, die sie zur kompetenten Teilhabe an der Gesellschaft benötigen. Dabei darf ein gründliches Fachwissen des Journalisten durchaus, im Sinne von Expertenwissen, filternd in den Informationsstrom eingreifen um dem Rezipienten bei der Bewertung zu helfen. Dass dabei der Blick auf den in Frage stehenden Sachverhalt nicht verstellt oder getrübt werden darf, versteht sich von selbst. Natürlich stellt bereits die Themenwahl eines Redakteurs eine Filterung dar, die sich in Schwerpunktsetzung und Präsentation fortsetzt, aber hier sollte man nicht vergessen, dass schließlich die Kompetenz des Redakteurs uns als Empfänger vor jenem Verlust der Orientierung im Rauschen des Datendschungels bewahrt, in welchen unsere moderne sogenannte Informationsgesellschaft uns wirft. Wer die Fähigkeit verliert zu filtern, verliert sich im Rauschen – Information muß eine Form annehmen, muss sich gleichsam häuten und auf ein Ziel hin ausrichten, sonst ist sie wertloses Geräusch. An dieser Stelle nimmt uns der kompetente Redakteur an die Hand. Hierin liegt ein Teil seiner Verantwortung. Natürlich ist es ebenso unsere Verantwortung, sorgsam umzugehen, mit dem was er uns anbietet. Sorgsam heißt auch: kritisch. Und es ist unsere gemeinsame Verantwortung deutlich zu trennen zwischen Nachrichten und Unterhaltung. Die News of the World jedenfalls darf man seit ihrer Gründung wohl getrost in die letztere Kategorie einordnen, dennoch gerierte sie sich als Zeitung mit einem journalistischen Anspruch, wie es viele andere Blätter gleicher Machart ebenfalls tun. Wir diskutieren europaweit die Frage, wie deutlich Fette und Zucker in Lebensmitteln schon auf der Verpackung gekennzeichnet sein müssen, weil wir glauben, dass wir den Konsumenten so schützen können aber eine „Glaubwürdigkeitsampel“ für Zeitungen scheint uns absurd. Vielleicht ist sie das auch – aber niemand soll mir kommen und sagen: „Das weiß man man doch, wenn man so eine Zeitung liest“: Wenn man Kartoffelchips ist, sollte man nämlich eigentlich auch wissen, was man da tut … Nein, eine „Ampel“ bringt vermutlich weder hier noch dort wirklich etwas. Helfen kann nur Aufklärung. Das aber ist eine gemeinsame Aufgabe von Bürgern, staatlichen Stellen und der Presse selbst. Und – daran sei noch einmal ausdrücklich erinnert – es verlangt die Aufgabe der Pflege und Bedienung jenes Bilds vom skandalsüchtigen, ungebildeten Working-class-Milieu und eine ernsthafte Anstrengung zu echter Beteiligung aller Bürger am politischen Leben.
…und im übrigen haben wir immer noch kein anständiges Wahlrecht!