Gefühlte Sicherheit, Statistik und moderne Schauergeschichten
By Giles
Es ist eines der Phänomene, die niemand glauben mag – und die Innenpolitiker und Sicherheitsbehörden nur allzu bereitwillig ausnutzen: Die oft gewaltige Diskrepanz von Wahrnehmung und Wirklichkeit in Sicherheitsfragen: Nehmen wir als Beispiel das Verhältnis unserer Wahrnehmung von Jugendgewalt und der Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2010 hierzu.
Wer von uns denkt beim Stichwort Jugendgewalt nicht gleich an den gewaltsamen Tod des Dominik Brunner im September 2009 oder, aus jüngerer Zeit, die Bilder der Überwachungskameras des U-Bahnhofs Friedrichstraße in Berlin, Ende April. Und ob des Entsetzens sind wir alle geneigt, die Situation für schlimmer zu halten, als je zu vor.
Allein, die Statistik spricht eine andere Sprache. Die Gewaltkriminalität Jugendlicher ging tatsächlich im Jahr 2010 um 9,9% zurück (PKS 2010, S. 12), betrachtet man nur den Teilbereich der schweren und gefährlichen Körperverletzung, so fällt die Abnahme mit 10,8% sogar noch etwas deutlicher aus (PKS 2010, S.12). Auch die Behauptung, die Angriffe seien brutaler geworden stützt die Statistik nicht.
Was dagegen zugenommen hat, ist die öffentliche Wahrnehmung und die Eindrücklichkeit der Berichterstattung: Es ist eben einfach etwas Anderes, ob wir beim Friseur / Metzger / Bäcker … hören, daß der Sohn (nein, ich werde das jetzt nicht gendern 😉 ) der X-ens den Y verprügelt hat, dies in einer Zeitung lesen, oder das Geschehen über die Bilder einer Überwachungskamera von der Nachrichtensendung unserer Wahl in unserer guten Stube zu sehen bekommen. (Wohlgemerkt, damit soll auf keinen Fall der Gewaltakt verharmlost werden: hier geht es nur um die Frage der Wahrnehmung der Tat, nicht um deren Bewertung.)
Man muß nicht Psychologe sein, um zu verstehen, warum die Bilder moderner Fernsehberichterstattung stärker wirken, als das gesprochene oder geschriebene Wort: Wer einen brutalen Angriff sieht, wer die Reaktion und das Leiden des Opfer erlebt, kann sich viel leichter mit dem Opfer identifizieren – in der Folge wird das individuelle Sicherheitsgefühl abnehmen.
Nun ist es ja nicht eben so, daß die moderne Medienlandschaft die Rezipienten ihrer Berichte schonte, im Gegenteil: Jeder Bericht über eine Gewalttat zieht eine lange Reihe von Berichten nach sich. Im Wettkampf um die Aufmerksamkeit der Zuschauer und Leser wird nun jeder vergleichbare Fall ans Tageslicht gezerrt. Und fast möchte man meinen, daß es bei diesem Wetteifern um den schaurigsten Beitrag geht. Anfang Mai zum Beispiel titelte der Spiegel von der Mordswut: „Kinder der Finsternis“ war der Leitartikel überschrieben – daß eventuell der eigentliche Bericht nicht nur eindimensional die Angst schürt, spielt nun nur noch eine untergeordnete Rolle: Der Eindruck, der bei Zuschauern und Lesern entsteht ist der einer völligen Verrohung der Sitten, das Gefühl mit dem er zurückbleibt ist: Angst.
Die Antwort der Politik ist der fast reflexartige Ruf nach nach härteren Strafen und mehr Kontrolle. Auch das ist eine natürliche Reaktion: Die Politiktreibenden möchten wiedergewählt werden – und dazu müssen sie auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen. Haben die Bürger Angst, braucht es Maßnahmen, diese Angst zu beruhigen. Am besten solche, die schnell (und wahrnehmbar) umsetzbar sind, bevor die Aufmerksamkeit der Leute von anderen Dingen eingenommen wird oder die nächsten Wahlen vorbei sind. Die oft unterbesetzten staatlichen Stellen sind im Zweifel auch immer für eine Verschärfung von Sanktionen und den Ausbau von Überwachungsmethoden, bereitet das doch am wenigsten neue Arbeit und kann ja durchaus die Aufklärung von Straftaten erleichtern: Wenn ich ein Bild eines Täters habe, ist es naturgemäß leichter seine Identität zu ermitteln.
Was dabei über Bord geht ist die Verhältnismäßigkeit. Das gilt für geforderte Verschärfungen des Jugendstrafrechts ebenso wie für die Forderungen nach noch mehr Überwachung – und es gilt letztlich auch für Dinge wie das Anti-Terror-Paket und seine bevorstehende Verlängerung oder gar Ausweitung. Zugespitzt formuliert: Rechtfertigt ein einzelner (ja, ich weiß es war mehr als einer) Gewaltausbruch eines Jugendlichen die Verschärfung des Jugendstrafrechts? Glauben wir wirklich wie Hans-Peter Uhl (CSU), daß „schon ein verhinderter Anschlag das ganze [Terrorismusbekämpfungs-]Gesetz“ legitimiert, wie er Anfang Mai gegenüber dem Handelsblatt äußerte? Immerhin sind es unsere Freiheiten, die wir da opfern, wenn wir einem immer dichter werdenden Netz von Überwachungskameras zustimmen, oder der Abfrage von Konto- und Flugdaten durch Geheimdienste, etc. Folgten wir nicht den Bildern und der Angst, sondern den Zahlen und dem Verstand, würden wir all diesen Maßnahmen dann auch zustimmen?
Nun könnten wir es uns leicht machen und den Verlust der Verhältnismäßigkeit allein den politisch Verantwortlichen zuschreiben. Das aber greift zu kurz, denn die Verhältnismäßigkeit haben auch wir schon verloren, wenn wir den Bildern mehr glauben, als dem Text, wenn wir uns von unseren Ängsten leiten lassen, ohne ihnen nachzugehen, wenn wir nicht verstehen, daß es unsere eigene Sensationslust ist, die in uns diese Ängste verstärkt, weil sie die Medien dazu verleitet uns aus realem Geschehen moderne Schauermärchen zu schneidern. Denn viel der medialen Aufmerksamkeit gerade an Gewaltverbrechen erfüllte eigentlich genau diesen Zweck, wären wir uns dessen bewusst. Allein – mangelnde Medienkompetenz (?) verhindert zu oft die Katharsis; wir vergessen, daß wir die Erzähler um Grusel gebeten haben und so bleiben wir zurück – mit den Bildern und der Angst. Und Angst, das weiß schon der Volksmund, ist ein schlechter Berater.