Europas Grenzen der Menschlichkeit
By Giles
Das Timing ist erstaunlich. Eine Woche nach dem erneuten Flüchtlingsdrama vor Lampedusa, fast genau ein Jahr nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Institutionen der EU, beschließt das EU-Parlament „Eurosur“. Nach einer Woche zur Schau getragener Betroffenheit ist man damit zurück auf dem altbekannten Pfad der Abschottung der „Festung Europa“.
Langsam sollte sich das Norwegische Nobel-Komitee fragen, ob die Idee der Verleihung des Friedensnobelpreises „als Ansporn“ nicht als gescheitert angesehen werden muss. Preisträger Barak Obama ließ sich durch den Preis nicht daran hindern, in Ländern wie Pakistan, Jemen oder Somalia sogenannte ‘nonbattlefield targeted killings’ also gezielte Tötungen von mutmaßlichen oder tatsächlichen Terroristen anzuordnen: Knapp 5000 Tote waren es bis Februar 2013 mindestens. Die EU fühlt sich durch den Preis, der seit 1960 auch den Einsatz für Menschenrechte einschließt, offenbar auch nicht ermuntert, an ihrer Politik etwas zu ändern. Das European Border Surveillance System (Eurosur) ist da nichts anderes als die konsequente Fortschreibung der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik, die die Europäische Union seit langem betreibt.
Im wesentlichen geht es bei Eurosur um die möglichst lückenlose Überwachung der EU-Außengrenzen in (nahezu) Echtzeit zur „Reduzierung der Zahl illegaler Einwanderer, denen es gelingt, unerkannt in die EU zu gelangen“, der „Erhöhung der inneren Sicherheit der EU als Ganzes durch Eindämmung grenzüberschreitender Kriminalität“, und der „Verbesserung der Such- und Rettungskapazität“ (Communication (COM (2008) 68), Abschnitt 2.2: Ziele – der Wortlaut des verabschiedeten Texts war heute auf der Seite des EU-Parlaments noch nicht verfügbar). Dazu sollen Überwachungssysteme in den Mitgliedsstaaten auf nationaler und europäischer Ebene vernetzt und ausgebaut werden, sowie die technischen Möglichkeiten zur Überwachung in Echtzeit verbessert bzw. hergestellt werden. Auf der technischen Seite bedeutet das den Einsatz von Satellitenüberwachung, UAVs („Drohen“), Offshore-Sensoren und biometrischen Identitätskontrollsystemen. Auf der behördlichen Ebene strebt Eurosur die Vernetzung aller mit der Grenzüberwachung und grenzüberschreitender Kriminalität befassten Organe in einem europaweiten Datennetz an.
Wie die EU den Aspekt der Rettung bewertet wird auch gleich im Text des Entwurfs klargemacht: „Langfristig lassen sich die Herausforderungen der Migrationssteuerung aber nur im Rahmen einer umfassenden Strategie lösen, welche die Zusammenarbeit mit Drittländern, auch bei der Grenzüberwachung, einbezieht“. Das entspricht der bekannten Vorgehensweise von FRONTEX, Flüchtlinge nach Möglichkeit gar nicht erst in den europäischen Einflußbereich gelangen zu lassen oder in die besagten „Drittländer“ – also im Falle der südlichen Mittelleeranrainer: die Herkunftsländer – zurück zu schicken. Entlarvend ist dabei auch die Rhetorik der verantwortlichen EU-Innenkommisarin Malmström: Da ist zuallererst vom Kampf gegen Kriminalität die Rede, von Risikolevels. Die mögliche Rettung von Flüchtlingen aus Seenot scheint da nur noch eine Dreingabe. Ein Antrag der Grünen im Europaparlament, den Rettungsaspekt deutlicher und prominenter im Text zu verankern fand entsprechend auch keine Mehrheit. Wenn sich, wie allerdings zu befürchten ist, an der Praxis der europäischen Flüchtlingspolitik nichts ändert, darf man sich fragen, wie Malmström sich vorstellt, dass, wie sie versichert, Grundrechte und das Prinzip der Nicht-Zurückweisung von Flüchtlingen gewahrt bleiben sollen.
Zu dieser Praxis gehört, neben der fragwürdigen Haltung von FRONTEX und NATO, (die sich mehr als einmal dem Vorwurf ausgesetzt sahen, Flüchtlingsbooten nicht zur Hilfe gekommen zu sein) auch die Tatsache, dass Privatpersonen – wie beispielsweise Fischer, die Flüchtlinge an Bord nehmen – nach wie vor Strafverfolgung durch die Behörden ihres europäischen Heimatlands fürchten müssen, obwohl das UNHCR bereits bereits im April 2011 darauf hingewiesen hat, dass überfüllte Flüchtlingsboote (damals ging es vor allem um Libyen) grundsätzlich als „in Seenot“ anzusehen seien. Was Europa braucht ist eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, die sich an den Bedürfnissen der Flüchtlinge orientiert, eine gerechte Verteilung der Lasten einer humanitären Asylpolitik und ein Ende der Heuchelei ihrer Innenminister. Was wir nicht brauchen ist noch mehr Überwachung, Millionenaufträge an europäische Rüstungsfirmen, um diese zu ermöglichen, menschenunwürdige Auffanglager – und ganz sicher brauchen wir nicht noch mehr Tote an unseren Grenzen.