Orwells kleine Brüder?
By Giles
Es scheint Leute zu geben, für die Orwells „1984“ eine positive Utopie ist.
Nachdem in Norwegen am Freitag so viele unschuldige Menschen auf so unbegreifbare Weise getötet wurden, beginnt hierzulande, nachdem mit Mühe eine (sehr kurze) Betroffenheitsschweigeminute eingehalten wurde, das Gezänk um die Frage, wie man die Freiheit der Bürger weiter einschränken sollte – vielleicht ja wirklich in der (abwegigen) Hoffnung, man könne so Taten wie die des Anders Behring Breivik verhindern.
Unionsinnenexperte Hans Peter Uhl holt, wenig überraschend, die Vorratsdatenspeicherung heraus: „Im Vorfeld muss die Überwachung von Internetverkehr und Telefongesprächen möglich sein. Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung“, sagt er gegenüber der Passauer Neuen Presse, und weiter: „Nur wenn die Ermittler die Kommunikation bei der Planung von Anschlägen verfolgen können, können sie solche Taten vereiteln und Menschen schützen. Alle Sicherheitsexperten sind dieser Meinung, mit Ausnahme der Bundesjustizministerin“. Diese Aussage ist ebenso alt wie falsch: Selbst in einem Gefängnis geschehen Straftaten, sogar Tötungsdelikte, und man darf wohl davon ausgehen, dass der Grad an Überwachung in einer Haftanstalt doch ein wenig über das hinausgehen dürfte, was selbst Herr Uhl sich für die gesamte Gesellschaft vorstellt. Und dass „alle Sicherheitsexperten“ der selben Meinung seien wie Herr Uhl und seine Freunde, liegt schlicht daran, dass man solchen, die anders darüber Denken den Expertenstatus einfach abspricht.
Noch einen drauf setzen kann der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Berhard Witthaut: „Wir müssen alles tun, um mitzubekommen, wenn jemand mit solchen kruden Gedanken auffällt. Da wäre eine Datei hilfreich“, äußert er gegenüber der Welt. Dass der Interviewer der Welt diese Antwort gleichsam herbei gefragt hat, macht eine solche Aussage nicht besser. Wenn auch vielleicht noch nicht Orwell, so droht da doch McCarthyismus um die Ecke zu kommen.
Solcher politischer Aktionismus ist unnötig, ärgerlich (dazu noch pietätlos) und schädlich. Er bedient und schürt Ängste und Misstrauen und befördert damit eben jenes Verhalten, dass er zu bekämpfen vorgibt: Wer sich in die Ecke gedrängt fühlt, reagiert schneller aggressiv; und so mancher Radikaler (egal welcher Richtung) wird sich in seinem Denken dadurch eher bestätigt fühlen. Dennoch finden wir ihn regelmäßig im Gefolge schlimmer Straftaten oder Terrorakten…
Bei allem berechtigten Ärger sollten wir aber auch versuchen, solche Reaktionen als das zu sehen, was sie in erster Linie sind: Dokumente der Hilflosigkeit, des Entsetzens. Wir, die sich nicht als direkte Entscheidungsträger an der politischen Gestaltung beteiligen, können diese Regungen so zeigen, wie wir sie empfinden – ein Luxus, den wir unseren Politikern und Sicherheitsexperten auch zugestehen sollten. Denn wenn sie sich nicht mehr unter unmittelbarem Handlungszwang wähnen, brauchen sie vielleicht auch nicht mehr mit Beißreflexen wie den oben geschilderten zu reagieren. (Wer es dann dennoch tut hat entweder übergroße Angst, oder will wirklich die Freiheit untergraben). Dass das geht, zeigen uns die Norweger, deren politische Klasse eben nicht mit Kontrollphantasien, sondern mit dem Aufruf zu mehr statt weniger Miteinander reagiert. Aufrufe zu mehr Wachsamkeit braucht es dort nicht.
Wachsam, liebe Mitbürger, muss der aufgeklärte Bürger eines freien, demokratischen Landes ohnehin immer sein: Es sollte selbstverständlich sein, dass wir unseren Mitbürgern beistehen (ohne Unterschied auch den zugewanderten – traurig genug, dass man das noch extra betonen muss), dass wir Unrecht und Ungerechtigkeit entschieden entgegentreten und uns Verwahren gegen jeden Versuch uns im Namen der Sicherheit unsere Freiheit abkaufen zu lassen – das ist eine Wachsamkeit im Geiste der Geschwisterlichkeit und Freundschaft und nicht im Geiste von Angst und gegenseitigem Misstrauen.
und (ich habe mit mir gerungen, ob es nicht unanständig wäre, es in diesem Kontext anzubringen – aber ein ceterum censeo muss wohl doch ausnahmslos angebracht werden) im Übrigen haben wir immer noch kein anständiges Wahlrecht!