Berliner Murks
By Giles
Man wünscht sich ja fast wieder zurück in die erste Phase der schwarz-gelben Koalition. Als man sich dort noch ausschließlich mit so unterhaltsamen Themen befasste, wie der Frage, wer eher Wildsau und wer Mitglied einer Gurkentruppe sei. Aber irgendwann ist der Berliner Kasperl-Bühne dann aufgefallen, dass man sich, statt nur um slapstick-reife Unterhaltung, ja eigentlich auch mal um politische Gestaltung kümmern könnte. Bedenkt man, was dabei bisher herausgekommen ist, kann man nur sagen: Schade, eigentlich.
Denn was die Regierung in der letzten Zeit tatsächlich mal angepackt hat, scheint sie durchgängig gründlich vermurkst zu haben. Nehmen wir nur die beiden jüngsten Katastrophen: Die halbgare Aussetzung der Wehrpflicht mit der offenbar kaum durchdachten „Einführung“ des Bundesfreiwilligendienstes, und Frau von der Leyens Bildungspaket.
Freiwilliges Chaos
Im Zuge der Idee einer grundlegenden Bundeswehrreform war (einmal wieder, denn die Diskussion ist so neu nicht) lange darüber diskutiert worden, ob man einen Wehrdienst denn noch brauche. Weil man sich nicht zu grundsätzlichen Entscheidungen durchringen konnte, wurde als Kompromiss der Weg der Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen. Aber während es als fraglich gelten dürfte, welche wichtige Aufgabe für die Allgemeinheit ein Dienstpflichtiger bei der Bundeswehr zuletzt übernahm, wird kaum jemand bezweifeln können, welche wichtige Funktion in unserem Land der Zivildienst erfüllte: In Pflegeheimen; der Hauskrankenpflege; dem Transport von Kranken, Behinderten, Alten oder dem Essen für diese. Die Liste ließe sich noch erweitern. Es gibt kaum einen Bereich in den sozialen Berufen, in dem Zivildienstleistende nicht als billige Arbeitskräfte willkommen waren. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht, das war auch allen klar – und man darf wohl getrost davon ausgehen, dass es vor allem darum nicht schon früher zu einer Abschaffung der Wehrpflicht gekommen ist – fällt auch der Zivildienst. Nun kann man von der Einrichtung Zivildienst halten, was man will (z.B. ließe sich anführen, dass Dienstpflichtige als billige Arbeitskräfte einzusetzen in den betroffenen Bereichen dazu beiträgt, die Löhne im ersten Arbeitsmarkt zu drücken), man wird aber zugeben müssen, dass es wünschenswert gewesen wäre, einen geordneten Übergang zu organisieren. Der Bundesfreiwilligendienst aber ist ein so schlecht zusammen geschneidertes Machwerk, dass er diese Funktion ganz sicher nicht wird erfüllen können. Was der ndr noch freundlich einen „holprigen Start“ nennt, darf man wohl eher als glatte Bauchlandung bezeichen. Christoph Künkel, Direktor des Diakonischen Werkes der hannoverschen Landeskirche, findet entsprechend deutliche Worte „…ich finde es einen Skandal“, sagt gegenüber dem ndr. Was er meint ist neben der unglaublich schlechten Informationsarbeit vor allem die mangelnde Rechtssicherheit für potentielle Bewerber: „…da kann man keinem Jugendlichen … empfehlen in den Bundesfreiwilligendienst einzutreten“, so Künkel wörtlich. Das scheinen die potentiellen „Bufdis“ genauso zu sehen: gerade einmal 2000 Bewerbungen soll es derzeit geben – etwa 90.000 würden gebraucht, um einen sauberen Übergang vom Zivildienst zu ermöglichen. Bei derart stümperhafter Vorbereitung kaum verwunderlich.
Blaue Briefe oder: Schuld sind immer die Anderen
Und dann wäre da ja noch das Lieblingskind von Frau von der Leyen, das Bildungspaket. Erinnern wir uns: Das Bundesverfassungsgericht hatte angemahnt, dass bei der Neuberechnung der Regelsätze für Hartz-IV die Teilhabe von Kindern am sozialen Leben gewährleistet sein müsse. Die Neuberechnung für Erwachsene ergab die bekannten acht Euro, die Teilhabe sollte nach den Wünschen von Ministerin von der Leyen auf jeden Fall über Sachleistungen gesichert werden. Denn die Ministerin glaubt, wie sie ja mehrfach öffentlich bekundet hat, dass in Geld ausgezahlte Hilfen für Zigaretten und Alkohol der Eltern missbraucht, statt sachgerecht verwendet würden. Ohne hier jetzt kommentieren zu wollen, was das über Frau von der Leyens Menschenbild verrät, ergibt sich daraus aber auf jeden Fall eine logistische Herausforderung, denn die Bereitstellung der Förderungen fällt so in den Bereich der Kommunen. Da zimmert Frau von der Leyen ein ziemlich grobes Gesetzesgestell, dass dann die Kommunen irgendwie mit Leben füllen sollen. Ist das gute Politik?
Das Ergebnis ist entsprechend: Uneinheitlich, unübersichtlich. So verwundert die dünne Resonanz für das Teilhabepaket eigentlich wenig. Und wie reagiert die Ministerin? Indem sie erst einmal pauschal gegen die Eltern bezugsberechtigter Kinder hetzt, sie hätten augenscheinlich kein Interesse, wenn es nicht Geld gäbe – und natürlich ist das eine prima Bestätigung für ihr dämliches Zigaretten-und-Alkohol-Argument. Und die Presse – auch die seriöse – springt auf den Zug auf. Erst langsam beginnt man in der Republik zu merken, dass es vielleicht auch an den vielen handwerklichen Schlampereien liegen könnte, dass die Sache einfach nicht klappt. Dem Neuen Senf ist ein Fall aus Bremen bekannt, der hier – natürlich anonymisiert – die Situation einmal verdeutlichen soll:
Ende April, kurz vor dem Auslaufen der ursprünglichen Antragsfrist, beschwert sich Frau von der Leyen, dass die Leistungen nicht abgerufen würden – zu diesem Zeitpunkt werden in Bremen gerade einmal seit einer guten Woche Briefe an die Berechtigten verschickt, die Informationen enthalten, welche Stellen denn zuständig seien. Hinweise, wie der Antrag zu stellen sei enthielten diese Anschreiben jedoch nicht – und bei den genannten Stellen zeigte man sich auf Anfrage ratlos: Man wisse auch noch nicht wie es laufen solle, bekam man zur Antwort, zusammen mit dem Hinweis, einen formlosen Antrag zu stellen.
Einen knappen Monat später folgt dann ein Schreiben, dass darüber informiert, welche Belege beizubringen sind, um die Leistungen abrufen zu können. Familie Mustermann, zwei Kinder, Wohngeldempfänger, erledigt dies binnen Wochenfrist. Beide Kinder sind bereits in Sportverein oder Musikschule.
Einen weiteren Monat später: Ein blauer Brief mit zwei „Blauen Karten“, die die prinzipielle Berechtigung der Kinder zum Empfang der Leistungen symbolisieren. Das Anschreiben erklärt (nicht ganz deutlich aber für einen intelligenten Empfänger einigermaßen erschließbar) wie es funktionieren soll – wenn das Kind noch nicht in einem Verein / einer Musikschule angemeldet ist. Ein Anruf beim Amt: Die sattsam bekannte Antwort: „Die Kinder sind schon…? Wie es nun gehen soll? Wissen wir auch noch nicht.“ Derzeit werde ein Katalog mit genehmigten Vereinen und Einrichtungen erstellt… Aha. Wenn das Kind nun „im falschen“ Verein ist? Und welche Instrumente darf es denn lernen? Obwohl also Familie Mustermann alles sofort und richtig gemacht hat, hat sie noch mehr als ein halbes Jahr nach Anspruchseintritt nicht einen müden Cent bekommen. Weder in Sachleistung, noch in Geld. Nur zur Erinnerung: Laut Urteil des Verfassungsgerichts vom 09.02.2010 (!) hätte das alles seit dem 01.01.2011 klappen sollen…Auch hier gilt: Gute Politik sähe anders aus – 6, setzen, Ursula.
Und heute stellt sich die Ministerin erneut vor die Presse und klagt, dass die Leistungen nicht recht ankommen… Ähm. Kann man das eigentlich noch angemessen kommentieren? Vielleicht hat Jürgen Trittin recht, wenn er, wie auf der Sonder-BDK der Grünen am letzten Wochenende, von der aktuellen als der schlechtesten Regierung seit Gründung der Bundesrepublik spricht… (Dank an Sabrina von plenarphonetik.de für den Selbstversuch mit dem Liveblog).